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05.07.2023: Reisezeit

Schneller als bei meinen anderen Romanen habe ich immer wieder das Gefühl, alles Nachdenken noch einmal abstellen und vom Schreibtisch weg zu müssen. Alle Recherchen abzuschließen, ehe ich ans Schreiben gehe. Zu groß ist wohl mein Respekt vor dem Thema, und ich will sicher gehen, keinen Irrtümern aufzusitzen, die dann später ausgebügelt werden müssen. Zugleich wünsche ich mir, dass das Erlebnis der Orte und Räume, an denen die Geschichte sich ereignet, mein Schreiben befeuert. In den Jahren der Pandemie habe ich Kurzurlaube in Tschechien gemacht, das man vom Wochenendhaus schnell erreicht. Gespürt, dass die böhmischen Wälder ein Gefühl von Wohlbehagen, auch Vertrautheit auslösen. Schwer zu sagen warum, vielleicht einfach deshalb, weil ich als Kind viel Zeit im Thüringer Wald verbracht habe. Der Wald ist zugleich aber auch Heimat und Sehnsuchtsort der mütterlichen Familie, die von dort vertrieben wurde. Das war in meiner Kindheit nur in Andeutungen präsent, musste aus Geflüster und Reden hinter vorgehaltener Hand, das schnell beendet und abgetan wurde, sobald wir Kinder die Ohren aufspannten, herausgelesen werden. Vielleicht haben wir deshalb so genau hingehört, geahnt: da ist etwas, das wehtut. Warum habe ich nicht genug nachgehakt? Bereue ich das? Definitiv. Habe ich es deshalb auch noch nicht geschafft, nach Arnau zu fahren? Die Gegend dort zu erkunden? Mag sein. Aber das wird sich endlich ändern…

28.06.2023: Eine Auflösung und ein Leitmotiv

Ein paar Tage später entwächst meiner Ratlosigkeit ein Gedanke, er ist morgens beim Aufwachen einfach da. Ich weiß nun: Der Bruder meiner Hauptfigur stirbt nicht, sondern sein Freund und Begleiter, und er kämpft deshalb lebenslang gegen das Erlebte und gegen seine Schuldgefühle an. Ich sehe den Grund dafür deutlich vor mir: Er und sein Freund Pavel fliehen in Richtung grüne Grenze, der Freund, ein Tscheche, hat beste Ortskenntnisse. Ein Gewitter zieht auf, Regen knallt zu Boden, die Natur ist außer sich, die beiden verlieren die Orientierung, spüren schon den Atem der Hunde der Grenzschützer im Nacken. Der Bruder meiner Hauptfigur rennt besinnungslos, purer Überlebensinstinkt gewinnt die Oberhand. Die beiden Fliehenden verlieren sich aus den Augen, doch der Bruder meiner Hauptfigur bleibt nicht stehen, er rennt weiter. Ihm gelingt die Flucht, der Freund bleibt zurück. Erst nach der Wende erfährt er von Pavels grausamem Schicksal und kann seither nicht mehr glücklich sein. Damit habe ich auch das Leitmotiv, das alle drei Geschichten miteinander verbindet: Schuld. Die der Mutter, die bei der Vertreibung die kleine Schwester verliert, auf die sie aufpassen sollte. Der Tochter, die in jungen Jahren die Gelegenheit, eine drohende Gefahr abzuwenden, verstreichen lässt. Die des Bruders, dessen Überlebensinstinkt in einem entscheidenden Augenblick größer ist als die Liebe. Und mit letzterem habe ich auch noch einen sehr interessanten psychologischen Recherchegegenstand. Wie handeln Menschen in existentiellen Situationen? Nehmen sie Rücksicht auf andere, wenigstens auf innig geliebte Menschen? Ich meine, darauf keine eindeutige Antwort finden zu können, zu viele Variablen gibt es in so einer Gleichung…

21.06.2023: Der Fall Hartmut Tautz

Der Roman wird drei Handlungsebenen haben, so viel steht nun fest. Die Gegenwartshandlung, die Geschichte einer Vertreibung und die eines fatalen Sommerurlaubs kurz vor der Wende, bei der der Bruder der Hauptfigur, zweites Kind jenes vertriebenen Mädchens, einen Fluchtversuch über die grüne Grenze in Tschechien unternimmt, der schiefgeht. Bei meinen Recherchen stoße ich auf die Geschichte eines jungen Mannes, der dies tat. Das Ende des jungen Hartmut Tautz aus Magdeburg war grausam, er wurde von Hunden der tschechischen Grenzpatrouillen gestellt und zerfleischt. Kann ich das einer meiner Romanfiguren zumuten?  Dem Bruder meiner Hauptfigur gar? Mit Kopfschmerzen gehe ich an diesem Abend zu Bett…Ein paar Tage später entwächst meiner Ratlosigkeit ein Gedanke, er ist morgens beim Aufwachen einfach da. Ich weiß nun: Der Bruder meiner Hauptfigur stirbt nicht, sondern sein Freund und Begleiter, und er kämpft deshalb lebenslang gegen das Erlebte und gegen seine Schuldgefühle an. Ich sehe den Grund dafür deutlich vor mir: Er und sein Freund Pavel fliehen in Richtung grüne Grenze, der Freund, ein Tscheche, hat beste Ortskenntnisse. Ein Gewitter zieht auf, Regen knallt zu Boden, die Natur ist außer sich, die beiden verlieren die Orientierung, spüren schon den Atem der Hunde der Grenzschützer im Nacken. Der Bruder meiner Hauptfigur rennt besinnungslos, purer Überlebensinstinkt gewinnt die Oberhand. Die beiden Fliehenden verlieren sich aus den Augen, doch der Bruder meiner Hauptfigur bleibt nicht stehen, er rennt weiter. Ihm gelingt die Flucht, der Freund bleibt zurück. Erst nach der Wende erfährt er von Pavels grausamem Schicksal und kann seither nicht mehr glücklich sein. Damit habe ich auch das Leitmotiv, das alle drei Geschichten miteinander verbindet: Schuld. Die der Mutter, die bei der Vertreibung die kleine Schwester verliert, auf die sie aufpassen sollte. Der Tochter, die in jungen Jahren die Gelegenheit, eine drohende Gefahr abzuwenden, verstreichen lässt. Die des Bruders, dessen Überlebensinstinkt in einem entscheidenden Augenblick größer ist als die Liebe. Und mit letzterem habe ich auch noch einen sehr interessanten psychologischen Recherchegegenstand. Wie handeln Menschen in existentiellen Situationen? Nehmen sie Rücksicht auf andere, wenigstens auf innig geliebte Menschen? Ich meine, darauf keine eindeutige Antwort finden zu können, zu viele Variablen gibt es in so einer Gleichung…

12.05.2023: Gleichgewicht

Nach längerer Lektoratspause nun wieder ein wenig Beschäftigung mit meinem Stoff, mit meinen Recherchen. Mitten hinein trifft an einem Abend die Erzählung meiner Schwester von einem Bericht unserer Tante, die als Kind 1945 aus der sudetendeutschen Stadt Arnau,  heute Hostinne, vertrieben wurde. Ein russischer Soldat habe ihr ein paar Schuhe geschenkt, denn sie hatte keine, weiß meine Schwester. Ich bin angefasst, erschüttert. Von einem kleinen, scheinbar unscheinbaren Detail, das zugleich das ganze Drama eines Kindes in einer Situation wie dieser veranschaulicht. Später denke ich: auch wenn das Detail deutlich „spricht“ und weit über sich selbst hinausweist, zu erzählen ist noch so viel mehr und auch noch so viel Schlimmeres, vom Tod der kleinen Schwester beispielsweise. Im Augenblick ist mir wenig danach, das zu tun, und ich lese momentan viel lieber Geschichten zum Abtauchen und mit happy end. Dennoch: was zur Geschichte gehört, muss erzählt werden. Eine wichtige Frage drängt sich auf: Wie kann ich das Grauen des Geschehens erträglich machen? Die wunderbare Gusel Jachina fällt mir ein. Sie, die sich mit den dunkelsten Kapiteln der russischen Geschichte auseinandersetzt, stellt sich, wie sie auf einer Lesung kundtat, immer eine Waage vor und fragt sich ganz gezielt: Wie gleiche ich all das Schreckliche, das ich meinen Leser*innen zumute, wieder aus? Ihre Roman zeigen, dass sie viel Energie in die Umsetzung investiert. Ihr Erzählen ist bildhaft, voller Humor, die Figuren zeigen viele kleine, menschliche Gesten, die beim Lesen bezaubern. Und sie erzählt ihre Geschichten als Liebesgeschichte oder als Abenteuergeschichte, und immer siegt am Ende das Gute.   

04.02.2023: Gestalten

Figuren nehmen Gestalt an. Eine Frage beschäftigt mich gerade besonders. Wie repräsentieren sie über das Individuelle hinaus die Themen ihrer Zeit oder Typiken menschlichen Verhaltens? Geschichte individualisieren und zugleich dem Individuum etwas Typisches verleihen, transparent werden lassen. Ein allgemeines Zeitphänomen zeigen.  Die Mutter der Hauptfigur in der Gegenwart ist ja die typische Vertreterin der Kriegskindergeneration. Viel Recherche habe ich betrieben, vieles gelesen. Literatur aber erfordert, die harten Fakten durch ein menschliches Wesen zu filtern, mit dem Blick eines Individuums zu versehen und somit auch zu verwandeln. Verzerrungen, mögliche Ungenauigkeiten sind einzupreisen, erst recht, wenn das Individuum ein Kind ist.  Damit bin ich recht schnell versöhnt, kaum etwas stört mich an Literatur zu historischen Sujets mehr als ein spürbares Bemühen um historische Korrektheit, was oft dazu führt, dass der Erzählfluss durch thematische Abhandlungen unterbrochen oder gar der lächerliche Versuch unternommen wird, Faktenmaterial in Dialogen unterzubringen, um solche Sachinfodumps zu tarnen. Ich stelle zugleich fest, dass meine Gedanken sich schon auf der Ebene des Erzählens bewegen, dabei bin ich noch mitten im Entwerfen der erzählten Welt. Schön aber, sich immer wieder genau dabei zu ertappen, zu merken, dass sich diese beiden Ebenen kaum so technisch betrachten, d.h. voneinander trennen lassen. Und vieles von dem, was ich jetzt notiere, wird nie Eingang

02.12.2022: Nur ein Kind

Immer wieder beschäftige ich mich mit der Frage, welche Rolle der Geschichte der Mutter meiner Hauptfigur in der Gegenwart, jenes 1945 vertriebenen Kindes also, zukommt. Wie die Vertreibung es geprägt hat und wie sich das konkret zeigte. War dieses Kind als Mutter später übertrieben kontrollbedürftig? Unsicher? Hilflos gegenüber Schicksalsschlägen? Emotional nicht belastbar? Das ist ebenso interessant wie die Frage, ob und wie ich von der Vertreibung erzähle. Habe ich als Deutsche das Recht dazu? Natürlich habe ich das. Und werde wohl radikal aus der Perspektive eines Kindes erzählen, das nicht versteht, was um es herum geschieht, und dem niemand irgendetwas erklärt. Das abgefüllt wird mit Nazi- Ideologie (in der Schule), von den Erwachsenen mit Durchhalteparolen abgespeist, wenn es Angst bekommt und so in ein Leben voller Beschränkungen hineingezwungen wird. Das lernt, dass man stark sein muss, dass Gefühle gefährlich sind, und das als später Erwachsene kaum Gefühle zeigen kann. Das Kontrolle ausübt über die eigenen Kinder und die emotionale Stille ihrer engsten Mitmenschen braucht, um sich stabil zu fühlen, und den Boden verliert, wenn Gefühle, gar Erinnerungen an damals, aufkommen. Und einen Mann findet, der das mitmacht. Radikal das Kind erzählen lassen also, keine Erklärungen liefern, nur seine Beobachtungen schildern. Ein Kind, für das Deutsche während des Krieges und Tschechen nach Kriegsende zu Menschen werden, die aus dem Rahmen fallen, ohne dass es eine Erklärung gibt, mit der das Kind etwas anfangen kann. Und das verinnerlicht, dass das immer wieder, jederzeit, passieren kann und damit für immer ängstlich, unsicher und beschädigt bleibt. Aufarbeitung und damit Befreiung gelingt erst in der nächsten Generation, der meiner Hauptfigur. Und auch die muss durch ein Tal der Tränen gehen, ehe das gelingt.

04.11.2022: Festhalten was geht

Seit einer Weile recherchiere ich zum historischen Hintergrund einer meiner künftigen Romanfiguren, es ist eine Frau, die als kleines Mädchen im Jahr 1945 mit ihren Eltern aus Nordböhmen vertrieben wird, die kleine Schwester kommt dabei ums Leben. Die Wucht der Ereignisse bringt den überlebenden Rest der Familie für immer zum Schweigen, eine Bewältigung gibt es nicht, was sich in das Leben dieses Kindes und auch das der nächsten Generation auf fatale Weise hineinfrisst. Die Themen Vertreibung nach Kriegsende und Racheakte an Deutschen durch Tschechen werden in Tschechien seit Jahren erforscht, seit der Wende, um genau zu sein. Bis dahin blieben sie verschüttet unter der Last der Ereignisse, die die Generation unserer Großeltern auf beiden Seiten zu tragen hatte, eine Auseinandersetzung wurde wohl auch erstickt vom Freundschaftsdiktat zwischen den sozialistischen Bruderländern. Doch seit 1990 hat sich das geändert, die gemeinsame Geschichte wird betrachtet. Zur Sprache kommen eben auch die Vertreibung der Deutschen und das Unrecht, das dabei geschah: die Übergriffe von Tschechen auf Deutsche. Ich spüre eine große Dankbarkeit dafür, auch Verblüffung und Scham. Wir Deutschen waren diejenigen, die zuvor größere Schuld auf uns geladen hatten. Und kann, darf man das überhaupt vergleichen? Wiegt jedes Unrecht, jeder Tod nicht gleichermaßen und für sich? Umso froher bin ich, dass keiner der tschechischen, eher jungen Menschen, die den Spuren der Deutschen in ihrem Land nachgehen und eigene Schuld benennen, einen solchen Versuch unternimmt. Beides steht nebeneinander: eure Schuld, unsere Schuld. Eine große Leistung ist das. Ich schreibe das, nachdem ich einen Vortrag des Historikers Tomas Dvorak hörte, und begreife plötzlich, schlagartig: Die Möglichkeit, mit Betroffenen in der eigenen Familie zu sprechen, ist nicht nur eine einmalige letzte Gelegenheit und ein Geschenk, sondern auch eine Pflicht. Eine Verpflichtung kommenden Generationen, meinen Kindern gegenüber, Erlebtes festzuhalten, ehe es für immer verschwindet, die eigenen Wurzeln sichtbar werden zu lassen, spürbar. Und besonders wach zu sein für das, was von den Betroffenen dabei ausgespart, was verschwiegen wird.

21.10.2022: Ein Ende und nichts als Freude

Vage, erste Gedanken zum nächsten Roman. Ein toller Vertrag für den, den ich in diesem Sommer beendet habe. Vor einer Woche große Aufregung, als dieser Vertragsschluss sich ankündigte, ich aus dem beständigen Mailkontakt mit meiner Agentin erfuhr, wie man sich im Ullstein- Verlag für den Roman begeisterte, den wir eingereicht hatten. Wie gut, wie treffend, das, was ich hatte zum Ausdruck bringen wollen, dort verstanden wurde. Meine übergroße Freude: Nach den für uns Künstler schweren Pandemie- Jahren endlich Licht. Nach Jahren, in denen viele von uns nicht wussten, ob sie als Schriftsteller*innen eine Zukunft haben werden. Ob auch ich das, was ich schreibe, werde verkaufen können. Zweieinhalb Jahre lang habe ich geschrieben, bekam ab und an Feedback von Kollegen, das ich annahm und den Roman immer wieder umschrieb, verbesserte. Alles reinsteckte. Durchhielt. All das hat gelohnt!

Liv Marie Bahrow © 2024